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Werther_

Empathisches Kammerspiel

★★★★★

O-Ton, 2017

Vielleicht ist der neue Werther am Theater Bielefeld als Ausgleich für den überfrachteten Otello gedacht, der am Anfang der Saison das Publikum verstörte. Denn Regisseur Alexander Charim und sein Ausstatter wenden einen fokussierten Blick auf das lyrische Drama von Jules Massenet an. Auch sie gehen fast einen Schritt zu weit, wenn sie alle Randfiguren von der Besetzungsliste streichen, auch den Kinderchor. Denn das hat Folgen für die Musik, da man so nach dem Vorspiel direkt zu der Stelle in der Partitur springt, wo Werther auf der Bühne erscheint, um Charlotte zum Ball abzuholen. Auch im zweiten Akt fehlen einige Minuten.

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Dafür erscheint Werther in doppelter Ausführung. Charim beleuchtet die fast manischen Charakterzüge der Titelfigur, indem er Schauspieler Orlando Klaus die nahezu pragmatische Seite spielen lässt als einen Gegenpol zu den schwelgenden Ausbrüchen, die Tenor Daniel Pataky zu meistern hat. Mag es eine bipolare Störung des Werther sein, eine Schizophrenie oder nur eine übersensibler Charakerzug – Fakt ist, dass das Innenleben Werthers nicht im Gleichgewicht ist. Wie sich Sänger und Schauspieler auf der einen Seite unterstützen, miteinander agieren, so stoßen sie sich im nächsten Augenblick schon wieder ab, prügeln sich, halten sich gegenseitig im Schach. Dass es die kontrollierte Seite des Werther ist, die Charlotte darauf aufmerksam macht, dass ihr zukünftiger Gatte Albert wieder im Lande ist, macht diese Konstellation noch eine Spur pikanter.

Charlotte steht daher öfters mindestens mit zwei, manchmal sogar mit drei Männern auf der Bühne. Gerade zwischen den Persönlichkeiten Werthers wird sie oft eingekeilt. Wenig subtil ist der Putzwahn, der ihre unglückliche Ehe mit Albert symbolisiert. Wie sich in ihrer unglücklichen Liebe von ihrer Familie entfernt, zeigt das Verhältnis zu ihrer Schwester Sophie, die keinen Zugang zu ihr findet. Der vierte Akt ist kein intimer Abschied der beiden Liebenden, sondern ein auswegloses Szenario in dem alle Beteiligten anwesend sind.

Es ist ein sehr intensives Kammerspiel mit einer der gründlichsten Personenregien seit langem in Bielefeld. Auch Ivan Bazak konzentriert sich auf das notwendigste, was Kulissen, Kostüme und Requisiten angeht. Aber diese wenigen Elemente strahlen eine gewisse Finesse aus, die für das optische Vergnügen vollkommen ausreichen.

Aber auch die Freunde der Musik kommen trotz der Kürzungen auf ihre Kosten. Zwar lässt Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic einige Forte-Stellen etwas zu brachial musizieren, so dass sie mehr einen Hauch zu sehr nach Wagner als nach Massenet klingen, aber in großen und ganzen gelingt ihm und den Bielefelder Philharmonikern eine sehr empathische Wiedergabe dieser so emotionalen Melodien. Im Orchester offenbaren sich dabei wunderschöne Soli-Momente. Diese schlichten Momente, worin sich schüchternes Annähern oder eine leise Träne drin widerspiegeln, berühren ungemein.

Dazu kommt eine Besetzung aus den eigenen Reihen, die sowohl szenisch als auch vokal in diesem Konzept aufgehen. Daniel Pataky ist mit seinem lyrischen Material schon von Grund auf ein idealer Werther, der aber auch manche Anstrengung nicht verschleiern kann. Vor allem beeindruckt sein darstellerischer wie vokaler Feinschliff, mit dem er der Figur viele Facetten geben kann. Er und der Schauspieler Orlando Klaus sind zu einer guten Einheit zusammengewachsen. Klaus schafft es, mit deutlicher Körpersprache und den lebendig vorgetragenen Texten von Goethe mit der Leistung des Tenors zu harmonisieren, was oft nicht der Fall ist, wenn Schauspieler und Opernsänger miteinander auftreten.

Abgesehen von leichten Unsicherheiten im dritten Akt meistert Nohad Becker die Rolle der Charlotte mit technischer Sicherheit. Ihre angenehm dunkel timbrierte Stimme hat einen schönen, selbstbewussten Kern, der auch zu der Figur und dem verzweifelten Festhalten an dem Eheversprechen gut passt. Der frei aufsingende Frank Dolphin Wong zeigt ohne Übertreibungen den Weg des netten Albert zu einem eifersüchtigen, kaltherzigen Ehemann auf. Cornelie Isenbürger gibt der Sophie jugendlichen Charme und erreicht mit schönen Details, dass man auch ihrer eher kleinen Rolle genau zuhört.

Das Publikum ist überwiegend ruhig, aber vielleicht eine Spur zu heiter gestimmt, so dass es mit den tragischen Umständen nicht immer so gut umgehen kann. Aber mit einem sehr lauten und langen Schlussapplaus bedankt es sich bei allen Beteiligten auf der Bühne. Die treten fast nur gemeinsam zur Verbeugung nach vorne, als wollten sie nochmal demonstrieren, dass diese Produktion nur als Gemeinschaftsprojekt so gut gelingen konnte.

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